Margaret Hamilton, Software-Pionierin und “Rope Mother”

Ihr Code brachte die Menschheit auf den Mond

Jenny Tiesler
Margaret Hamilton

Looking back, we were the luckiest people in the world. There was no choice but to be pioneers; no time to be beginners.

Damals...

…in den 50er-Jahren gehörte Margaret Hamilton, damals noch Margaret Heafield, zu den wenigen Frauen, die studierten. Mit 24 Jahren schloss sie ihren Bachelor of Science in Mathematik und Philosophie im Nebenfach ab. Ihren ursprünglichen Plan, einen Master anzuhängen und Mathematik-Professorin zu werden, verwarf sie allerdings wieder. Während ihres Studiums in Indiana lernte sie ihren Mann kennen, heiratete und ihre Tochter kam zur Welt. Als sie nach ihrem Abschluss einen Job als Programmiererin am MIT (Massachusetts Institute of Technology) annimmt, soll der eigentlich nur dazu dienen, die junge Familie finanziell abzusichern. Denn Margaret Hamiltons Mann steckte noch in seiner Ausbildung an der Harvard Law School.

Der begabten jungen Frau, die sich das Programmieren selbst beibrachte, machen die kniffligen Aufgaben Spaß. Bald arbeitet sie an einem Programm zur Identifizierung feindlicher Flugzeuge mit. Als sie von der Apollo-Mission der NASA hört, heuert sie sofort an. Mit nur 30 Jahren leitet sie ein kleines Team, das die Software für die Leit-und Navigationssysteme an Bord der Kommandokapsel und der Mondlandefähre schreiben soll. Ihr ambitioniertes Ziel: Ein sich selbst beobachtendes System, in dem Software, Hardware und Mensch jederzeit kommunizieren können. “Man in the Loop” wird das revolutionäre Konzept genannt. Entscheidend für die Mission der Apollo 11: Margaret Hamiltons Software führt Aufgaben prioritätsgesteuert und asynchron aus. Bis dahin war es üblich, dass Programme stur ihre Rechenoperationen abarbeiteten. Margarets Hamiltons Software dagegen ist multitaskingfähig: die Software entscheidet, welche Aufgaben priorisiert werden und welche warten können. Ein Sakrileg, denn das Programm maßt sich etwas an, dass bisher dem Mensch vorbehalten war: Unvorhergesehenes einzuschätzen und darauf zu reagieren. Doch Margaret Hamiltons Code berücksichtigt, dass menschliches Eingreifen nötig sein kann, wie sich 1969 zeigt: Das Landemanöver war nur im Zusammenspiel von Hamiltons Software und dem Eingreifen von Neil Armstrong erfolgreich.

Nicht nur die Computertechnik steckte damals noch in den Kinderschuhen. Auch der Begriff “Software” war zu der Zeit noch eine Art Blackbox. Selbst die Geldgeber des Projekts wussten nicht, was “programmieren” eigentlich bedeutet. Kaum vorstellbar, aber am Anfang gab es nicht einmal ein Budget für die Software-Abteilung der NASA. Um die wichtige Rolle der Programmierer:innen zu verdeutlichen, nannte Margaret Hamilton sie kurzerhand “Software Engineers”. Denn welche wichtige Rolle Ingenieuren in der Raumfahrt spielen, das wussten Vorgesetzte und Geldgeber.

Aus heutiger Sicht kaum zu glauben, aber gerade einmal 72 Kilobyte Speicherplatz gab es damals an Bord. Üblicherweise verwendete man Lochkarten aus Papier als Speichermedium für Programme. Doch für die Mondmission musste ein wesentlich robusterer Speicher her: Der Code von Margaret Hamilton und ihrem Team wurde von vielen Näherinnen in der Industriestadt Waltham bei Boston Bit für Bit in Handarbeit in Hardware “übersetzt”. Die Frauen fädelten winzige donutförmige Eisenringe auf Kupferdrähte auf – nach dem Lochkarten-Prinzip, nur als Perlen aufgereiht. Diese kiloschweren Seile nannte man “Ropes”, die Verantwortlichen: “Rope mother”. Ein einziges Programm konnte so schnell mehrere Kilo auf die Waage bringen.

Als berufstätige Mutter blieb Margret Hamilton oft nichts anderes übrig, als ihre Tochter mit ins Instrumentation Laboratory des MIT zu nehmen, um am Wochenende weiterzuarbeiten. Beim Astronaut-Spielen drückt die Kleine einen Knopf, der das gesamte System zum Absturz brachte. Dieser Zwischenfall alarmierte die junge Software-Pionierin. Sie bestand trotz großer Widerstände ihrer Vorgesetzten darauf, menschliches Fehlverhalten mit einzukalkulieren. Ohne Backup-Systeme und Schutzvorkehrungen reichte ein falscher Knopfdruck und das Leben der Astronauten stand auf dem Spiel. Was das hieß, zeigte sich kurz darauf bei der Apollo 8: Versehentlich drückten die Astronauten einen Knopf, der das Startvorbereitungsprogramm auslöste und wichtige Daten löschte. Fieberhaft arbeiteten Margaret Hamilton und ihr Team bis sie schließlich nach 9 Stunden die verlorenen Daten über Houston zu den Astronauten schicken konnten. Die Mission war gerettet und ihre Vorgesetzten eines Besseren belehrt worden.

40.000 Zeilen Code, die Geschichte schrieben … Die erfolgreiche Apollo-11-Mission war ein perfektes Beispiel für die Interaktion zwischen Mensch und Maschine und Margaret Hamiltons außergewöhnlicher Software: Armstrong erkannte, dass der vom Computer gewählte Landeplatz wegen der vielen, autogroßen Felsbroken viel zu gefährlich war und justierte manuell nach. Erst später kam heraus, dass die Mondlandung fast abgebrochen worden wäre. Kurz bevor die Landefähre den Mond erreichte, meldeten die Bordcomputer plötzlich Fehler. Tatsächlich sendete ein eigentlich abgeschalteter Radar massenhaft Daten. Margaret Hamiltons Programm erkannte die drohende Überlastung und meldete, dass es sich auf die Kernaufgabe konzentrierte, das Landemanöver. Eine Vorsichtsmaßnahme also. Die Astronauten erhielten von Houston die Anweisung den Fehler zu ignorieren – der Rest ist Geschichte.

Heute...

…ist das prioritätsgesteuerte Abarbeiten von Aufgaben, asynchrone Software und die Entscheidungsfindung durch das Konzept “Man in the loop” die Grundlage moderner Softwarearchitektur. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Apollo-Programms gründete Margaret Hamilton ein eigenes Software-Unternehmen. Von der NASA erhielt sie erst spät Anerkennung für ihre bahnbrechende Arbeit. 2003 wurde sie für ihre Leistung mit dem NASA Exceptional Space Act Award geehrt und erhielt mit 37.000 $ (ca. 32.522 €) die bisher höchste Preissumme. 2016 ehrte sie Präsident Obama mit der Presidential Medal of Freedom, der höchsten zivilen Auszeichnung der USA.

Bild: Margaret Hamilton, Draper Laboratory, restored by Adam Cuerden, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons, zugeschnitten

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